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21. November 2022
Susanna Kraus Casutt (48) ist Slawistin, wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Stadtarchiv Luzern und Mutter zweier Kinder. Seit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beherbergte sie zunächst eine geflüchtete Familie, jetzt eine junge Frau.

Von Edith Arnold

Am 4. Februar 2022 schrillen in den Ohren der Slawistin die Alarmglocken. Nach US-Geheimdienstinformationen soll Russland tatsächlich Blutkonserven in Grenzregionen geliefert haben. Zwei, drei Monate zuvor hörte sie im Radio von Angriffsplänen auf die Ukraine. «Doch Blut in Beuteln hat ein Ablaufdatum», sagt Susanna Kraus am Familientisch.
Seit Kriegsbeginn am 24. Februar schaut die Familie keine Fernsehnachrichten mehr. Man macht sich quasi ein eigenes Bild. Um Platz für Geflüchtete anzubieten, meldet sich Susanna Kraus bei der Organisation Campax und dem Kanton Luzern. Einige Wochen passiert nichts. So beginnt die wissenschaftliche Mitarbeiterin neben dem Stadtarchiv Luzern, wo sie arbeitet, das ukrainische Kultur- und Begegnungszentrum «Prostir» (Raum) in Reussbühl mit aufzubauen. Sie stellt eine Bibliothek bereit, organisiert Veranstaltungen zu Medizin und Recht. Beim Verteilen geschenkter Fahrräder wird ihr bewusst, dass Verkehrsunterricht nicht schaden könnte. Also steigt sie auf ihren Sattel und führt die Ankommenden in schweizerische Regeln ein.

Susanna Kraus Casutt
Susanna Kraus Casutt in ihrem Heim, das sie und ihre Familie seit Ende März mit geflüchteten Menschen aus der Ukraine teilt. Das Zusammenrücken kennt sie vom Austauschjahr in Russland und aus Erzählungen ihres Vaters: Er flüchtete 1968 während des Prager Frühlings in die Schweiz.

Kulturschock hält sich in Grenzen

Zu der Zeit ruft Campax an, ob das Angebot noch bestehe. Sie hätten eine Familie, die nur Russisch und Ukrainisch spreche. Am nächsten Tag treffen eine Frau (36) mit Sohn (13) und Tochter (7) ein. Der Kulturschock hält sich in Grenzen: Susanna Kraus spricht fliessend Russisch und Tschechisch. Mit etwas Polnisch komme das Ukrainisch nahe, sagt sie. Ihr Vater ist gebürtiger Tscheche. Während des Prager Frühlings 1968 flüchtet er in die Schweiz, wo er das Elektroingenieurstudium fortsetzen kann. Hier lernt er seine Ehefrau kennen; die Schweizerin hat zuvor an den Kunstakademien von München und Prag studiert. Eine Tochter und drei Söhne kommen zur Welt. «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» von Alexander Solschenizyn gehört zu ihrer Jugendlektüre. Der systemkritische Russe prägt: Sich gegen ein Unrechtsregime aufzulehnen, ist normal. Susanna Kraus wählt an der Kantonsschule in Zürich Russisch als Freifach.

1991/92 geht’s mit AFS, der grössten Austauschorganisation in der Schweiz, für ein Jahr in die damalige Sowjetunion. Die Gastfamilie wohnt in Schukowski, 40 Kilometer südöstlich von Moskau. Sie teilt mit den Gasteltern und einer Gastschwester eine 3-Zimmer-Wohnung. «Etwas beengt», kommentiert sie. Schulisch habe sie wenig gelernt. Umso intensiver sei es gewesen, in Zürich mit derselben Klasse abzuschliessen. Nach der Matura «gönnt» sie sich sechs Monate in Moskau. Danach reist sie in Etappen zurück, um das Baltikum kennenzulernen. An der Universität Zürich studiert sie Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Politikwissenschaft. Entsprechend ist die Bibliothek bestückt, die den Esstisch umrandet. Vom Ehemann, Denkmalpfleger beim Kanton Luzern, sind die kunstgeschichtlichen Bücher.

Enger zusammenrücken

Durch ihre Erfahrungen kann sich Kraus in die ukrainische Familie hineinversetzen. «Sie flüchtete aus dem Osten, 20 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Auf Google Maps erkannten wir den kleinen Ort, am Ende der letzten Strasse gar das Haus», sagt Kraus. Darin gibt es kein fliessendes Wasser. Die Zisterne wird regelmässig gefüllt – wenn der Tanklaster die unbefestigte Strasse befahren kann. Zufällig haben Kraus Casutts zuvor das kleine Bad, das zum Gästezimmer gehört, renoviert. Dieses liegt im Gartengeschoss des Einfamilienhauses und hat einen separaten Zugang. Der Ort wird für Mutter und Tochter freigemacht. Für den Sohn räumen Susanna und ihr Mann Marcus ihr Schlafzimmer. Sie nächtigen fortan im Zimmer ihrer Tochter (13), die beim Bruder (8) einzieht.

Susanna Kraus ist sowieso kaum im Haus. Zu den 50 Prozent im Stadtarchiv arbeitet sie inzwischen in ähnlichem Umfang ehrenamtlich im «Prostir». Zum Glück gibt’s gratis Deutsch-Tutorials auf Youtube! Und manchmal sorgt die Dolmetsch-App «SayHi» für Staunen: Als Marcus etwas erklären will, spuckt es «Hund» heraus, von dem gar keine Rede war. So dient Susanna Kraus als «Relais» für alle und alles. Die «Schaltzentrale» kocht Berge von Älplermagronen, Aufläufen, Eintöpfen. Die ukrainischen Kinder haben einen Riesenhunger. Ihr eigener Sohn bastelt derweil blau-gelbe Freundschaftsbänder. Ihre Tochter bemalt mit der Gastfamilie Ostereier. Sich ständig allen Privatraum zu teilen, gestaltet sich aber immer schwieriger. Es findet sich für die Drei eine Einlegerwohnung im Steinhofquartier. Eine Einladung zum Essen folgt auf den Fuss.

Surreale Ferien

Ihr sei bewusst, sagt Susanna Kraus, dass sie gute Bedingungen zum Helfen habe. Andere Gastfamilien leisteten einen mindestens so grossen Effort. Inzwischen arbeitet Kraus nicht mehr bei «Prostir». Dafür sitzt nun ein neues Mitglied am Tisch: Sofiia aus Odessa. Bereits in der Ukraine habe sie Deutsch gelernt, sagt die junge Medizinerin mit rot lackierten Fingernägeln. Sie habe sich eine Zukunft in Deutschland vorgestellt. Die Mutter sei Allgemeinärztin nahe Lwiw. Auf dem Weg in die Schweiz habe sie Landsleute betreut. Im «Prostir» lernt sie einen Arzt der Klinik St. Anna kennen und übersetzt mit seiner Hilfe das Schweizer Medizinsystem auf Ukrainisch. Er bietet ihr Praktikumstage an. Innere Medizin und Gastroenterologie, präzisiert Sofiia. Für die Wohnsituation empfiehlt er, sich bei Susanna Kraus zu melden.

Die Zufallsfamilie scheint Wahlfamilie zu sein. Die junge Ärztin lernt Velofahren, besucht DeutschIntensivkurse, hütet notfalls das Haus. Ihr ukrainisches Diplom ist hier nicht «anerkennbar», aber «registrierbar». Derzeit wird es beim Bundesamt für Gesundheit geprüft. Gerne würde sie als Assistenzärztin zu arbeiten beginnen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer wähnten sich wie in surrealen Ferien, sie besuchten Ausflüge und Kurse, sagt Kraus. Viele seien auch rückkehrwillig. Die Rückkehrorientierung erschwere die Integration.

Ein grosser Unterschied zu 1968: Damals wollten die Menschen nur weg aus der Tschechoslowakei und eine neue Heimat finden. Kraus’ Vater und Onkel lernten die Sprache schnell, studierten und arbeiteten, gründeten Familien. 2022 sind ungleich viel mehr Ukrainerinnen und Ukrainer ungewollt aus ihrem Land geflüchtet. Seither ist manches in der Schwebe.

Unterbringung in der Stadt Luzern

Derzeit leben in der Stadt Luzern rund 1000 Ukrainerinnen und Ukrainer (vom Kanton betreut), darunter rund 200 Schulkinder (Stand 1. November 2022). Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine dauert mit aller Härte an. Kanton und Stadt Luzern rechnen damit, dass weitere Menschen aus der Ukraine flüchten müssen. In der Stadt Luzern konnten bisher alle Ukrainerinnen und Ukrainer in Wohnungen untergebracht werden.

Grosse Solidarität

Seit Kriegsbeginn ist die Solidarität der Luzernerinnen und Luzerner mit den Vertriebenen gross. Das zivilgesellschaftliche Engagement beeindruckt: Freizeit- und Integrationsangebote, Beratungs- und Anlaufstellen sind geschaffen worden. Bestehende Vereine und Organisationen haben ihr Angebot angepasst.

Weitere Informationen

Ein Überblick über das Engagement und die Angebote findet sich auf der Homepage der Stadt Luzern in der blau-gelben Kachel «Ukraine-Konflikt: Informationen und Aktivitäten der Stadt Luzern». Haben Sie Fragen? Oder möchten Sie die Menschen in der Ukraine oder Schutzsuchende hier bei uns unterstützen? www.stadtluzern.ch gibt Auskunft.

Geflüchtete in Luzern

Die Unterbringung der Geflüchteten liegt in der Verantwortung des Kantons Luzern. Er wird dabei von zivilgesellschaftlichen Kräften und Organisationen wie beispielsweise Campax unterstützt.

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Stadtmagazin 4/2022