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23. Juni 2025
Der Grosse Stadtrat hat seine Verfahren überprüft und das Geschäftsreglement überarbeitet. Was ändert sich? Was bleibt? Wie harmonieren die Fraktionen? Ratspräsident Simon Roth und Stadtschreiberin Michèle Bucher geben Auskunft.

Interview: Dagmar Christen

Was waren die Auslöser für die Totalrevision des Geschäftsreglements?

Simon Roth: Anstoss gaben verschiedene parlamentarische Vorstösse: Beispielsweise verlangten mehrere Fraktionen die Möglichkeit, eine Vorlage in zwei Schritten beraten und bereinigen zu können: die sogenannte zweite Lesung. Ebenso wurde ein Wunsch der Parlamentsmehrheit erfüllt: Nun kann ein Antrag auch gegen den Willen der Person, die das Postulat oder die Motion eingereicht hat, als teilweise erheblich erklärt werden. Bisher ist in einem solchen Fall nur die vollständige Zustimmung oder Ablehnung möglich.

Michèle Bucher: Das Geschäftsreglement des Grossen Stadtrates war während 25 Jahren in Kraft. In dieser Zeit hat sich in der Praxis einiges verändert. Jetzt war die Zeit reif, den aufwendigen Weg einer Totalrevision zu gehen: Die Entwürfe der Stadtkanzlei wurden in einer parlamentarischen Arbeitsgruppe, in der Geschäftsleitung des Grossen Stadtrates und unter Einbezug des Stadtrates diskutiert und bereinigt. Im April 2025 hat der Grosse Stadtrat dem neuen Geschäftsreglement zugestimmt. Am 1. August tritt es in Kraft.

Die Oberaufsicht über Stadtrat und Verwaltung hatten bisher vier Kommissionen. Neu prüft nur noch die Finanz- und Geschäftsprüfungskommission (FGK). Wieso?

Simon Roth: Wir haben die Verantwortlichkeiten geschärft. Vorlagen werden weiterhin von den vier ständigen Kommissionen vorberaten. Die Neuerung betrifft vor allem die Oberaufsicht. Bisher kümmerten sich alle vier Kommissionen um die Oberaufsicht. Neu ist nur noch die FGK für die parlamentarische Kontrolle zuständig. Das gibt ihr die Möglichkeit, diese Aufgabe mit mehr Systematik anzugehen. Das soll sich positiv auf die Qualität auswirken.

Michèle Bucher: Eine starke Oberaufsicht ist wichtig. Sie ist in unserem System ein Checks-and-Balances-Element. Sie schafft Vertrauen zwischen dem Stadtrat und dem Parlament, aber im Idealfall auch zwischen den Behörden und der Bevölkerung.

Simon Roth: Die Professionalisierung der parlamentarischen Kontrolle soll nicht als Misstrauensvotum interpretiert werden. Ich möchte betonen, dass Grosser Stadtrat sowie Stadtrat und Verwaltung ein sehr gutes Verhältnis und eine konstruktive Zusammenarbeit pflegen.

Wie ist das Verhältnis zwischen den Fraktionen? Bewegen sich auch in Luzern die politischen Pole immer weiter auseinander?

Simon Roth: Ich stelle diese vieldiskutierte Polarisierung im Grossen Stadtrat nicht fest. Ein Hinweis auf unser konstruktives Miteinander ist, dass im neuen Geschäftsreglement keine Redezeitbeschränkung festgeschrieben ist. Aber natürlich: Im Rathaus treffen sechs unterschiedliche Grundhaltungen aufeinander. Das ist in den Debatten auch zu spüren.

Michèle Bucher: Der Eindruck einer Polarisierung wird durch den Wandel in der Medienlandschaft befeuert. Auf Social-Media-Kanälen werden Positionen gerne zugespitzt. Im Rat hingegen herrscht eine lebendige Diskussionskultur. Zudem sind die Mehrheitsverhältnisse knapp. Daher muss immer wieder der Kompromiss gesucht werden.

Im neuen Geschäftsreglement wird Wert auf eine zeitgemässe Sprache gelegt. Im Stadtparlament hingegen ist die Anrede hochformell: Jedem Votum wird «Sehr geehrter Präsident, geschätzte Mitglieder des Stadtrates» vorangestellt, gefolgt von «liebe Kolleginnen und Kollegen» – allenfalls «liebe Kolleginnen bis Kollegen».

Simon Roth: Wir haben die Anrede nicht explizit geregelt. Es scheint mir aber richtig, dass die Vertretungen korrekt und die Stadträtinnen und Stadträte in ihrer Funktion als Teil eines Gremiums angesprochen werden. Die Ratsdebatte ist ein formeller Akt und kein Geplauder.

Michèle Bucher: Als Richtschnur nennt das Reglement den gegenseitigen Respekt und «den parlamentarischen Anstand in Rede und Auftreten».

Simon Roth: Das Geschäftsreglement regelt die Grundsätze des Ratsbetriebs. Den verbleibenden Spielraum darf und muss jede Ratsgeneration gemeinsam interpretieren und aushandeln.

Die Vorlagen werden immer komplexer und müssen intensiver vorbereitet werden. Hat das Auswirkungen auf die Entschädigung der Ratsmitglieder?

Simon Roth: Die Vorlagen werden umfangreicher und auch komplexer. Das ist auch auf unsere Forderungen zurückzuführen. Das Parlament wünscht teilweise einen hohen Detaillierungs- und Konkretisierungsgrad. Vielleicht sollte sich der Grosse Stadtrat künftig weniger um Operatives und vermehrt wieder um Strategisches kümmern. Über die Höhe der Entschädigung machen wir uns Gedanken: Sie unterschreitet den Mindestlohn, wie er in Luzern ab 2026 gelten wird. Es darf nicht sein, dass jemand aus finanziellen Gründen auf einen Parlamentssitz verzichtet muss. Es soll aber auch nicht so sein, dass jemand wegen der Entschädigung im Parlament ist – davon sind wir aktuell aber sehr weit entfernt.

Stellvertretungen sind weiterhin nur in Kommissionssitzungen erlaubt. Wieso hat man die Totalrevision nicht genutzt, um eine bessere Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Grossstadtratsmandat zu ermöglichen?

Michèle Bucher: Diese Änderung liegt nicht in unserer Hand. Eine kommunale Stellvertretungsregelung braucht eine kantonale Gesetzesgrundlage. Der Stadtrat hat sich im Auftrag des Grossen Stadtrates bereits vor einiger Zeit beim Kanton für die Schaffung einer solchen Grundlage eingesetzt.

Allenfalls könnte mit der Stellvertretungsregelung die Verweildauer der Mitglieder im Grossen Stadtrat verlängert werden?

Simon Roth: Allenfalls. Natürlich ist eine gewisse Konstanz von Vorteil. Mit jedem Rücktritt geht Know-how verloren. Das schwächt ein Milizparlament. Auf der anderen Seite ist nicht die Amtsdauer zentral. Für mich ist die Motivation entscheidend, mit der das Amt ausgeübt wird.

Was ist Ihre Motivation?

Simon Roth: Ich finde Lokalpolitik sehr spannend. Hier kann ich konkret mitgestalten. Die Parlamentsarbeit im Grossen Stadtrat ist besonders: Wir haben kurze Wege zu den Mitgliedern des Stadtrates und zu den Verantwortlichen der Verwaltung. Und wie bereits erwähnt: Wir pflegen eine lebendige, gute Debattierkultur im Rat.

Die Digitalisierung hält im über 400-jährigen Rathaus Einzug: Die Stimmenzählenden werden durch eine elektronische Abstimmungsanlage entlastet, die Übertragung der Sitzungen (Livestream) wird fix installiert. Können Interessierte die Sitzungen auch vor Ort verfolgen?

Michèle Bucher: Nach Aufhebung der Corona-Massnahmen ist das Parlament wieder in den Grossstadtratssaal im Rathaus zurückgekehrt. Leider noch ohne Publikum. Zuerst müssen wird die feuerpolizeilichen Auflagen erfüllen. Die Bauarbeiten werden voraussichtlich im Sommer 2026 umgesetzt, und ab Herbst sind auch wieder Gäste im historischen Ratssaal willkommen.

Simon Roth: Der Livestream ist toll: Online können viele Menschen die Debatten verfolgen. Er bildet aber nur einen Ausschnitt ab. Die Atmosphäre im Ratssaal, die Dynamik einer Debatte kann nur begrenzt eingefangen werden. Ich finde es wichtig, dass die Bevölkerung wieder Zugang zu unseren Sitzungen erhält. Das ist Bestandteil unserer gelebten Demokratie und bietet der Bevölkerung auch eine Möglichkeit zum direkten Austausch mit den Parlamentsmitgliedern in der Kaffeepause.

Interview
Simon Roth, Grossstadtratspräsident, und Michèle Bucher, Stadtschreiberin. Bald können Gäste die Parlamentssitzungen wieder hier im Rathaus verfolgen.

Neue Namen
Mit dem Inkrafttreten des neuen Geschäftsreglements (1. August 2025) werden die Namen der Kommissionen ihrem effektiven Wirkungsbereich angepasst: Die Baukommission heisst dann Bau-, Umwelt- und Mobilitätskommission (BUK), die Bildungskommission wird zur Bildungs-, Kultur- und Sportkommission (BKSK), die Sozialkommission wird zur Sozial- und Sicherheitskommission (SSK) und die Geschäftsprüfungskommission wird zur Finanz- und Geschäftsprüfungskommission (FGK).

Praxis wird konsolidiert
Im Ratsbetrieb haben sich über die Jahre Abläufe etabliert, ohne dass es dafür eine rechtliche Grundlage gibt. Mit dem neuen Geschäftsreglement werden solche Praktiken konsolidiert – etwa, dass an der ersten Sitzung des neugewählten Parlaments (konstituierende Sitzung) keine Sachgeschäfte behandelt werden.

Jugend und Amtsalter
Die konstituierende Sitzung wird weiterhin vom Alterspräsidenten oder der Alterspräsidentin geleitet. Das Alter bezieht sich aber nicht mehr auf die Lebens-, sondern die Amtsjahre. Die Eröffnungsrede hält neu das altersmässig jüngste Ratsmitglied.

Geschäftsleitung
Die Geschäftsleitung des Grossen Stadtrates war bei der Totalrevision des Geschäftsreglements stark involviert. Die Geschäftsleitung besteht aus dem Präsidium und dem Vizepräsidium des Grossen Stadtrates (aktuell Simon Roth und Mirjam Fries) und den Präsidien der sechs Fraktionen.

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