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15. April 2025
Pia Gemperle arbeitet im Hintergrund: Sie ist wissenschaftliche Archivarin im Stadtarchiv. Für ihre Leidenschaft begibt sie sich aber ins Zentrum der Aufmerksamkeit: beim Lesen und Transkribieren alter Handschriften oder auf Frauenstadtrundgängen.

Von Edith Arnold

Bild oben: Pia Gemperle an einem ihrer Lieblingsorte: am Vierwaldstättersee. Hier, auf dem Europaplatz, treffen sich regelmässig gesellschaftlich-politischhistorisch Interessierte: Der Europaplatz ist der Sammelplatz für die Frauenstadtrundgänge. Die Historikerin Gemperle hat sie mitentwickelt.

Einer ihrer fünf Lieblingsorte in der Stadt? Pia Gemperle (39) bestellt zur Landungsbrücke 1 beziehungsweise «Meilihalle» der Schifffahrtsgesellschaft. Die Konstruktion aus Glas und Stahl im Stil der Moderne gehört zu den Kulturgütern von nationaler Bedeutung. Die Archivarin erscheint, olivfarbener Trenchcoat, Wollstirnband über den dunkelbraunen Haaren, blasser Teint. Ohne sich von den kreischenden Möwen abzulenken, sagt sie mit klarer Stimme: «Hier beginnt ‹Hin und weg. Migrationsgeschichten aus Luzern›. Diesen neuen Rundgang habe ich gemeinsam mit Eva Bachmann, Nathalie Ehrenzweig und Nicole Schraner entwickelt.»

Pia Gemperle blickt zum Bahnhof, wo Ende November 1956 69 Ungarinnen und 264 Ungaren mit dem Zug ankommen. Nach der Flucht vor den blutigen Zusammenstössen mit der Roten Armee erwartet sie «ein herzlicher Empfang». Luzernerinnen reichen ihnen Puppen, heisse Ovomaltine und Zigaretten. Krienserinnen schmücken die Quarantäne in der Kaserne Allmend mit Blumen. Dass Frauen in der Schweiz viel zu lang hinter dem Herd und hinter dem Mann stehen, verleitet eine Migrantin später zur Aussage: «In Ungarn war ich eine Frau, hier aber nur eine Frau.» Sie mache Geschichte gerne lebendig, sagt Gemperle auf dem Weg zum zweiten Lieblingsort, auch wenn sie lieber im Hintergrund als im Vordergrund agiere.

Vor dem Eingang des Luzerner Theaters bleibt Pia Gemperle auf einem Feld des Plattenbodens stehen. Hier ist 2019 ein riesengrosses Leiterlispiel inszeniert. Das Spiel symbolisiert die Hürden, die Frauen im realen Leben im Weg stehen. Glücklicherweise ist die Gleichstellung auf guten Wegen: In der künstlerischen Direktion des Luzerner Theaters bilden Frauen inzwischen sogar die Mehrheit.

Gleiche Möglichkeiten für alle

Wie es um ihre Emanzipation stehe? Sie sei eine Feministin, aber keine radikale, sagt Gemperle. «Frauen im Laufgitter» der Frauenrechtlerin Iris von Roten gehörte zur Lektüre. Sie mache gerne spielerisch auf Errungenschaften aufmerksam. Ihren acht- und zehnjährigen Töchtern vermittle sie, dass sie die gleichen Möglichkeiten hätten wie alle. Wie ihr Partner, ein Lichttechniker im Kulturhaus Südpol, arbeitet sie 60 Prozent. Hinzu kommen die Engagements als Stadtrundgängerin und Kursleiterin. Die Gartenarbeit beim Haus ist Männersache. Ihrer Naturliebe geht sie in Waldspaziergängen nach.

Aufgewachsen auf dem Gemperlehof an der Helgengüetlistrasse in Reussbühl, erlebt Pia Gemperle neben ihrem Vater eine aktive Stiefmutter. Die Wochenenden verbringt sie häufig bei ihrer Mutter. Unkonventionell ist die Tierhaltung der Gemperles: Ziegen, Schafe und Rinder beweiden Grünzonen inmitten von Wohnquartieren. Als Bauernkinder hätten sie Schafe quer durchs Dorf gezügelt, erinnert sich Gemperle. Wenn heute Rinder auf der Wiese vor dem Stadtarchiv in Reussbühl grasen, leben Bilder vergangener Tage wieder auf.

Der Nase nach

Dritter Lieblingsort in der Innenstadt: der Platz vor der Jesuitenkirche, wo Stufen in die Reuss führen. Hier startet der Frauenstadtrundgang «Der Nase nach». Ein Gemisch aus Schnee und Frühling liegt an diesem Märztag in der Luft. Was die Historikerin riecht? Sie aktiviert ihr olfaktorisches Gedächtnis: «Exkremente und Klopapier, die lange Zeit im Fluss schwimmen», sagt Pia Gemperle. Erst in den 1950er-Jahren sei das Gewässerschutzgesetz in Kraft getreten, wodurch sich die Wasserqualität gleich verbesserte. Sie sei froh, in der heutigen Zeit zu leben. Beim Nordpol steige sie in die Reuss und lasse sich gerne treiben. Sie schätze ebenso die städtischen Trinkwasserbrunnen. Im Lauf der Zeit verändern sich Nutzungen: Im Sudeltrog des gotischen Weinmarktbrunnens haben früher Kinder gebadet, heute trinken Hunde daraus.

Auf dem Kornmarkt schaut Pia Gemperle zum Rathausturm hoch, der im Mittelalter als Stadtkanzlei, Wacht- und Beobachtungsturm dient: ihr vierter Lieblingsort. Heute brauche es für jeden Bereich eigene Gebäude. Zur Überwachung passe ein Schreiben des Polizeirats an den Verwaltungsrat der Stadt vom «8. Augstmonat 1814» gegen verrohende Badesitten: «...wie nöthig es nämmlich wohl seye, sich von der Erhizung, die Sie dem hastigen Gang nach dem Badorte sich zugezogen haben, vorerst abzukühlen bevor sie sich in das Wasser werfen.»

Alte Schriften faszinieren sie wegen des präzisen, rhythmischen Schriftbilds. Ohne Delete-Taste müsse man konzentriert vorgehen, stellt sie bei sich fest. Dialektwörter katapultieren sie zudem in die entsprechende Zeit. Wegen der direkten Art schreibt sie SMS ebenfalls in Dialekt, E-Mails dagegen in Hochdeutsch. Im Stadtarchiv bietet Gemperle Kurse im Lesen alter Handschriften an. An der Universität Luzern lehrt sie mit Eva Bachmann Studierende «(K)eine Kunst: Lesen und Transkribieren alter Handschriften». Während ihres dortigen Geschichtsstudiums besteht das Angebot noch nicht.

Zeitlose Perspektive auf See und Berge

Seit 20 Jahren taucht sie in die Vergangenheit ein. Vor dem Schwanenplatz wirkt sie, als ob sie die Hofbrugg vor sich sehen könnte, welche von der Hofkirche bis zur Kapellbrücke führte. Mit dem Abriss öffnet sich der Befestigungsring, was die Zone für den aufblühenden Tourismus attraktiviert. Die Perspektive vom Schwanenplatz zum Vierwaldstättersee und den Bergketten ist zeitlos, wären da nicht all die Leute aus nah und fern mit Smartphones. Der Vierwaldstättersee als fünfter Lieblingsort: Weiter hinten, auf Höhe Tribschenbadi, ist Pia Gemperle oft mit dem Stand-up-Paddle unterwegs. Der Kraft der Wellen mit dem Paddel entgegenzusetzen, ist Echtzeit pur.

Ans Wasser

Wir gehen über die Seebrücke. Am KKL Luzern leuchtet der «Cry me a River»-Regenbogen von Ugo Rondinone – «eine moderne Form von Fassadenmalerei », kommentiert Pia Gemperle und biegt ab. An der Bahnhofstrasse, wo eine weitere Station von «Hin und weg» wäre, ist ihr Fahrrad parkiert. Wo wäre ihr Lieblingsort ausserhalb von Luzern und der Schweiz? In welchem anderen Land könnte sie sich ein Leben vorstellen? Wenn sie wegziehen wollte, dann eher in den Norden, sagt sie. Dänemark könnte ein Ziel sein, am ländlichen Meer, wo sie einmal Wale beobachtet habe.

Pia Gemperle
Pia Gemperle, wissenschaftliche Archivarin im Stadtarchiv

Weitere Informationen

Weibliche Perspektive
Sechs Historikerinnen und Geschichtsstudentinnen gründeten 1992 den Verein Frauenstadtrundgang. Inzwischen stehen 15 Rundgänge zur Auswahl. Willkommen sind alle. Während eineinhalb Stunden werden Themen an bestimmten Orten vertieft, mit historischen Quellen und Requisiten leicht theatral inszeniert. «Du heiratest ja doch!» ist der erste Rundgang, «Hin und weg» der neuste. Er erzählt Migrationsgeschichten in einem kleinen Radius in der Altstadt.

Ehrenamtliche Arbeit
Pia Gemperle gehört mit Anic Sophie Davatz, Pia Fleischlin, Nicole Schraner und Barbara Steiner zum Vorstand des Vereins. Die Tätigkeit ist «halbehrenamtlich». Mit «Hin und weg» startet die Rundgangsaison am 12. April. Weitere Daten und Themen sind unter: www.frauenstadtrundgang.ch zu finden.

Alte Schriften lesen
Für das Stadtarchiv führt Pia Gemperle auch Schriftenlesekurse durch. Dabei geht es vor allem darum, (Familien-)Dokumente, die im 19. Jahrhundert in alter deutscher Kurrentschrift verfasst wurden, zu entschlüsseln. Der Kurs zeigt den Variantenreichtum der Schrift auf und vermittelt Methoden, selbst schwer Lesbares zu entziffern. Als Schriftproben dienen historisch interessante Texte. Die Schriftenlesekurse finden jeweils im März und Oktober statt.

Mehr Informationen
www.stadtluzern.ch/stadtarchiv

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Stadtmagazin 1/2025

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