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In den kommenden Monaten wird in Luzern ein altes Industriedenkmal restauriert – die Eisenbahnbrücke in der Fluhmühle. Seit einem Jahr laufen die umfangreichen Vorbereitungen. Die aufsehenerregenden Arbeiten, bei denen ein erstes Brückenelement herausgehoben und durch eine temporäre Ersatzbrücke ausgetauscht wird, starten am 22. März 2025. Es ist dies jedoch nicht das erste Spektakel an dieser Stelle. Bereits der Ersatz der ursprünglichen Brücke 1920/21 bot Schaulustigen eine eindrückliche Demonstration der damaligen Ingenieurskunst.

Die erste Eisenbahnbrücke über die Reuss bei der Fluhmühle auf der Strecke Luzern-Zug-Zürich wurde 1863/64 als Fachwerkbrücke mit fünf Bögen erbaut. Ihre vier Pfeiler sowie die Aufschüttung am rechten Ufer mit Ausbruchmaterial aus dem Friedentaltunnel führten jedoch zu ungünstigen Strömungsverhältnissen, die das Flussbett erodieren liessen. Im Jahr 1876 richtete ein Hochwasser zudem grosse Schäden an. Die Pfeiler wurden daher jedes Jahr von Neuem mit grossen Steinen gesichert, welche aber das Flussprofil zusätzlich verengten. Ab 1914 war die Brücke bei der Fluhmühle deshalb nur noch mit verminderter Geschwindigkeit befahrbar. Die für Herbst 1922 geplante Elektrifizierung der Bahnstrecke machte einen Ersatz unumgänglich, denn die elektrischen Lokomotiven waren bedeutend schwerer.

Da der Neubau an derselben Stelle stehen sollte, mussten die Gleise während der Bauzeit verlegt werden. Als provisorische Brücke für den Bahnbetrieb diente die ursprüngliche, flussabwärts verschobene Brücke. Um das Bauwerk am Stück verschieben zu können, war ein ausgeklügeltes System notwendig. Dieses war auch für die Fachwelt von Interesse und wurde in der Schweizerischen Bauzeitung detailliert beschrieben. Die Verschiebung erfolgte am Mittwoch 25. August 1920 innerhalb von fast unglaublichen zwanzig Minuten.

Mit der provisorischen Brücke wurde der Bahnbetrieb auf der Strecke Luzern-Zug-Zürich aufrechterhalten, während daneben die neue, dreibogige Brücke erstellt werden konnte. Ihre zwei Pfeiler wurden im sogenannten Senkkastenverfahren erstellt, das seit dem 19. Jahrhundert zur breiteren Anwendung kam. Auch die Vorgänger-Brücke war – als eine der ersten in der Schweiz – nach diesem Prinzip gebaut worden. Dabei wurde ein unten offener Caisson (Kasten) auf Grund gesetzt. Er diente gleichzeitig als Fundament wie auch als Arbeitskammer zur Absenkung des Pfeilers. Mittels Überdruck wurde das Eindringen des Wassers verhindert. Das Eigengewicht und die Schneide des Caissons drückten ihn in die Flusssohle. Ein Kamin diente dabei sowohl als Zugang für die Arbeiter, als auch zur Entsorgung des Aushubmaterials, das am Grund händisch abgetragen werden musste. Schliesslich wurde das hohle Fundament mit Beton gefüllt.

Nach 13 Monaten Bauzeit konnte das Bauwerk am 21. September 1921 dem Eisenbahnverkehr übergeben werden. Damit waren die Arbeiten allerdings noch nicht abgeschlossen: Die alte Brücke, die als Provisorium gedient hatte, musste zurückgebaut und Baustelleninstallationen wie das temporäre Barackenlager entfernt werden. Gleichzeitig zur Erstellung der neuen Brücke wurde der Friedentaltunnel an die geplante Elektrifizierung angepasst und dazu erhöht.

Aus heutiger Betrachtung wirken die Baustelleninstallation wie auch die Arbeitsverfahren tollkühn. Sicherheit wurde noch nicht grossgeschrieben, die Haltung dem menschlichen Leben gegenüber war eine andere – Unfälle wurden in Kauf genommen. So wurde etwa ein Mitarbeiter der Firma Bell, ein Familienvater aus Kriens, von einem herabfallenden Balken erschlagen. Ob es bei den Unterwasserarbeiten in den Caissons unter Überdruck zu Unfällen mit der Dekompression kam, ist nicht bekannt. Belegt ist jedoch der tragische Tod des für die Brückenverschiebung zuständigen SBB-Ingenieurs und Berichterstatters in der Bauzeitung, Myrtill Dreifus, und eines Ingenieurs der Firma Locher & Cie. sowie zweier ihrer Arbeiter. Bei der Sprengung der provisorischen Brückenpfeiler hatte ein Zünder versagt. Die Untersuchung des Zündapparates löste eine Explosion aus und riss die vier Männer in den Tod.

Die Reuss-Brücke versieht ihren Dienst in der Fluhmühle mittlerweile seit über hundert Jahren. Inzwischen ist sie eine der wenigen noch erhalten gebliebenen Halbparabel-Fachwerkbrücken in der Schweiz. Sie wurde bereits in der Vergangenheit mehrfach aufgefrischt und soll nun mit der Erneuerung des Korrosionsschutzes für die kommenden fünfzig Jahre Eisenbahnbetrieb ertüchtigt werden. Da die Arbeiten nicht bei laufendem Betrieb vorgenommen werden können, müssen die je rund 185 Tonnen schweren Brückenbogen jeweils mit einem provisorischen Ersatzteil ausgetauscht und an Land saniert werden. So sorgt die imposante Brücke einmal mehr für Spektakel.

Die hier gezeigten Fotos stammen fast alle aus einem einzigen Dossier im Stadtarchiv. Wer sie gemacht hat und auf welchen Wegen sie ins Stadtarchiv gelangt sind, ist nicht bekannt. Glücklicherweise war die Entstehung der Brücke Sensation genug für eine ganze Serie kostspieliger Fotos.

Die Bahngeleise aus Luzern verzweigen sich nach links zum Zimmereggtunnel Richtung Entlebuch, rechts über die Brücke Richtung Zürich und führen geradeaus nach Emmen und Richtung Olten/Bern. Die fünf Halbparabelträger der alten Brücke waren nur 2,6 m hoch und 28,6 m lang, bei der neuen messen die drei Träger 6,8 m auf 47,1 m. Eingezeichnet ist auch die nötige Stabilisierung mit Steinen (oben). Hölzerne, mit Jochen verbundene Pfähle bildeten die provisorischen Stützen. Zwischen ihnen und den Pfeilern wurden Verschubbahnen mit Rollenzügen montiert (s. hinten, vorne fehlt die Konstruktion noch). Am 25.08.1920, zwischen 11:25 und 11:45, wurde die 430 t schwere Brücke mitsamt Personen und 10 t-Kran auf den Geleisen um 9 m verschoben. Das Publikum verfolgte das Schauspiel vom Ufer aus. Blick vom Ufer Friedental Richtung Fluhmühle. Links im Bild: eine der Verschubbahnen mit Rollenzug, bestehend aus 15 Rollen von 150 mm Durchmesser. Zwei A 3/5-Lokomotiven fuhren mit vollem Dienstgewicht von je 115 Tonnen mit 25 km/h auf die Brücke und vollzogen in der Mitte eine Vollbremsung. Regulär galt 10 km/h und Bremsverbot. Der Kamin dient als Einstieg für die Arbeiter und als Transportweg für den Aushub. Dieser gelangt durch eine Schleusenklappe nach draussen. Ist der Caisson genug abgesenkt, wird der Hohlraum mit Beton gefüllt. Während bei der neuen Brücke der Caisson aus Eisenbeton direkt vor Ort gegossen wurde, waren für die alte Brücke noch an Land vorbereitete Eisen-Caissons mit Mantelblechen verwendet worden. Auf dem Bild ragt aus dem Gerüst der Kamin mit der aufgehängten Druckkammer hervor und verrät den darunter liegenden Caisson. Er wird das Fundament des Pfeilers bilden. In der Einstiegsluke der Druckkammer ist ein Arbeiter der Firma Locher & Cie. zu erkennen, zwei weitere stehen davor. Die Arbeit unter Überdruck konnte durch Fehler bei der Dekompression gefährlich werden. Die Verkleidung erfolgte vorzu mit fortschreitendem Aufbau und Absenken des Pfeilers. An der provisorischen Brücke ist ein Dienststeg angebracht, auf dem mit Kipploren Material transportiert wurde. Am rechten Ufer wurde bereits der Kran für den Überbau montiert, während der linke Pfeiler und das linke Widerlager noch auf ihre Fertigstellung warteten. Rechts im Bild: Teile des linken Pfeilerkopfs (weiss). Am Kranwagen auf der Ersatzbrücke: Ein Teil des Pfeilerkopfs (Auflagerträger) für den linken Pfeiler. Inzwischen war mit dem fahrbaren Portalkran ein erstes Element des Oberbaus aufgerichtet worden. Auf die fertiggestellten Pfeiler und Widerlager wurde vom rechten Ufer beginnend über einem Gerüst Träger für Träger der Halbparabeln zur neuen Fachwerkbrücke zusammengebaut und genietet. Entworfen worden war die Brücke vom Brückenbaubureau der Generaldirektion der SBB, die Bauleitung lag bei der Kreisdirektion Zürich, die Ausführung bei Locher & Cie, Löhle & Kern (Zürich) sowie Bell (Kriens). Arbeitsteilung: Je ein Nietenheizer erhitzte die Nieten am gasbetriebenen Ofen, ein Gegenhalter fing die zugeworfene heisse Niete mit einem Kessel auf und setzte sie ein, worauf der Nieter die Niete einschlug. Wie in einer halsbrecherischen Zirkusnummer lassen sich die Erbauer auf der fast fertigen Brücke ablichten. Unerschrockenheit und Risikobereitschaft führten zum Erfolg und forderten gleichzeitig ihren Tribut. Links die neue fertiggestellte, aber noch nicht befahrbare Brücke, daneben die alte, als Provisorium genutzte Brücke, die zum Schluss zurückgebaut wurde. Die drei Bogen der Brücke bilden fast die einzige Konstante. Die Verkehrssituation (Hauptstrasse mit Brücke, SBB-Doppelspur, Xylophonweg, Autobahn) wie auch die Bebauung haben sich radikal gewandelt. Über hundert Jahre lang ist das Wasser der Reuss unter ihr hindurchgeflossen und doch braucht sie nicht viel mehr als einen neuen Anstrich. Der rüstigen Rentnerin alles Gute für die Zukunft!