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22. August 2022
Über 80 Nationalitäten leben miteinander und nebeneinander im Quartier Basel- und Bernstrasse Luzern (BaBeL). Der gleichnamige Quartierentwicklungsprozess wird von der Stadt Luzern seit 20 Jahren unterstützt. Ein Augenschein zum Jubiläum.

Von Edith Arnold

Geschäftsfrau und Gastgeberin

Die Baselstrasse sei für sie wie eine Seitenstrasse in Mexico City, wo sie herkomme, sagt Dora Cecchini-­Bravo. Nur gebe es dort vor allem mexikanische Angebote, keine diversen oder multikulturellen wie hier.

Seit 15 Jahren betreibt sie «El Sombrero Latino» an der Baselstrasse 74. Auf dem Trottoir-Plakat steht «Mexican Take-away, authentische mexikanische Küche». Mit dem Lokal betritt man einen Paladar, ein Privatrestaurant im Kleinstformat. Neben dem Esstisch gibt es Regale mit typisch mexikanischen Produkten, darunter Masken und Textilien, Tabasco in verschiedenen Schärfegraden, Lebensmittel in Büchsen, Gläsern und Säcken. Von den Wänden blicken Frida Kahlo und die Nationalheilige Maria von Guadalupe, hinter dem metallischen Tresen steht Dora Cecchini-­Bravo. «Am beliebtesten sind die Burrito­ Varianten – meine mexikanische Antwort auf die türkischen Kebabs», sagt die Frau in temperamentvollem Spanisch Deutsch. «Chiles Poblanos Rellenos», mit Ricotta gefüllte Paprika in Tomatensauce gebacken, mache sie nur auf Bestellung. Etwa dann, wenn eine «Shop and Food»­-Tour anstehe.

Welche Beziehungen pflegt Dora Cecchini-Bravo zur Nachbarschaft – einem Pizza­-Anbieter oder einem sri-lankischen Laden mit Paket-Abholservice? Man grüsse sich, sagt sie, doch dann verschwänden alle den ganzen Tag im Laden. Ihre Öffnungszeiten: 10 bis mindestens 19 Uhr.

Dora Cecchini-Bravo
Dora Cecchini-Bravo, Besitzerin des «El Sombrero Latino» und Mitbegründerin der «Shop and Food»-Touren.

Aktivist und Vertreter der Quartierkräfte

Urs Häner verkörpert Ur-BaBeL. Seit 37 Jahren lebt der Mann mit dem Methusalem­-Bart und den Ledersandalen an der Dammstrasse. Ein paar Schritte weiter steigt er, lange bevor es in Mode war, in die Reuss, um sich treiben zu lassen. Doch der Geniesser ist ebenso Aktivist, kennt jeden Winkel im Untergrund-Quartier. Während des Lockdowns habe er festgestellt, dass die Nationalitäten von 76 auf 88 gestiegen seien, sagt er im Restaurant Reussfähre. Zwölf dieser Gemeinschaften nehme man über Läden, Esslokale oder Treffpunkte wahr, darunter Italien, Sri Lanka, neuerdings Eritrea. Seine Meilensteine? Das Quartierzentrum Sentitreff mitaufgebaut zu haben. Gemeinsam mit Quartierkräften, Baudirektion und der Baugenossenschaft abl seit über zehn Jahren die neue Siedlung «Obere Bernstrasse» mitentwickelt zu haben – und – überhaupt das ständige Ineinanderwirken der BaBeL-Quartierkräfte, die er für den Verein «UntergRundgang» vertritt.

Was derzeit ansteht? «Die Organisation BaBeL ist weniger international, als sie sein könnte», findet er. Ziel ist, möglichst alle Nationalitäten zu erreichen. «Die Gemeinschaften stabilisieren ihre Kultur gegen innen. Zusätzlich Interkulturelles zu pflegen, kann die Ressourcen übersteigen», sagt Häner. Selber engagiert er sich seit je ohne Entgelt, lebt inzwischen von der Pension als Druckereiarbeiter und seinen «UntergRundgängen». Für sein Tun erhielt er von der Stadt Luzern die Ehrennadel.

Urs Häner
Urs Häner, omnipräsent im BaBeL-Quartier und Mitbegründer der «UntergRundgänge».

Initiator und Vernetzer

Die Saat ist ziemlich aufgegangen. Alex Willener sitzt zwischen Blumen, Kräutern und wetterfester Büchervitrine im Sentigarten an der Baselstrasse. Über ihm rauscht ein Zug vorbei, auch Motorenlärm ist zu hören. Die urbane Oase war Ende der 1990er­Jahre noch Parkplatz zwischen Sentitreff und Gütsch-­Talstation. Der Hochschuldozent suchte vor Jahren den Ort auf, weil er die dortigen Aktivitäten bewunderte. Wie könnten diese mehr Wirkung erzeugen, wollten die Quartierkräfte von ihm wissen. Willener empfahl, Hochschulressourcen einzubringen. Gemeinsam mit der Stadt Luzern starteten die Departemente Soziale Arbeit, Wirtschaft, Design & Kunst, Technik & Architektur mit Quartierkräften und Anwohnenden einen Entwicklungsprozess. «Mit Geld von der Schindler-Stiftung realisierten wir zuerst ‹BaBeL-Kids›, ein regelmässiges Betreuungs- und Impulsprogramm für alle Quartierkinder», sagt Willener. «Danach erkämpften wir den Lädeliplatz zwischen Berlin-Bar und ‹Gewerbehalle›. Für diese Oase genügten kleine Massnahmen wie Platzebnung, Bepflanzung, Sitzmöglichkeiten.» Wo er, inzwischen wieder mehr Beobachter, neuen Handlungsbedarf sieht? «Bei der Kooperation. Vorbildfunktion zeigt derzeit die Gemeinnützige Stiftung für preisgünstigen Wohnraum GSW. Diese kaufte an der Ecke Baselstrasse / Bernstrasse Immobilien, renovierte sie und sorgt mit einem zahlbaren Angebot für einen interessanten Erdgeschoss-Nutzungsmix.»

Alex Willener
Alex Willener hat als Dozent an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit den Quartierentwicklungsprozess mitinitiiert.

Auskunft und Vermittlerin

Wenn man beim Schweizerischen Städteverband in Bern arbeite, kenne man BaBeL in Luzern, sagt Julia Imfeld. Das Leuchtturmprojekt habe im Bereich Quartierentwicklung nationale Ausstrahlung. Im Juni 2021 hat die Politologin und Sozialwissenschaftlerin als BaBeL-Geschäftsführerin von Bern an die Baselstrasse 72 gewechselt. Dort sitzt sie gut sichtbar im «Schaufenster». Leute kommen wegen einer Fotokopie oder einer administrativen Auskunft vorbei. Plane jemand eine Veranstaltung, könne sie eine Bühne oder Pflanzen der Stadtgärtnerei vermitteln, bei der Kommunikation helfen. Zwischendurch kämpft sie gegen den schlechten Ruf des Quartiers. Hier ist er begründet: Littering ist nicht nur in den Filmen «Rue de Blamage» und «Tatort ‹Schutzlos›» ein Thema. Ihre Strategie: «Über Multiplikatoren wie Läden sensibilisieren. Wenn Sperrgutmarken in allen Sprachen verkauft werden, sollte das einen Effekt haben.» Hier ist BaBeL im Aufbruch: Die Bausubstanz im Quartier verbessere sich zusehends, sagt Julia Imfeld. Derzeit nimmt Julia Imfeld an Planungssitzungen zur Baselstrasse-Sanierung teil. Während eineinhalb Jahren sollen alle Leitungen erneuert werden. Dann ist die Kantonsstrasse nur einseitig befahrbar. Wenn sie einen Zauberstab hätte, würde sie den Streckenabschnitt in einen Tunnel leiten. Doch selbst bei weniger Verkehr: Das Quartier dürfe nicht zum hippen Viertel werden. Es müsse vielfältig, pulsierend, nachtschwärmerisch bleiben.

Julia Imfeld
Julia Imfeld, BaBeL-Geschäftsführerin und Verbindungsfrau des Quartiers zur Stadtverwaltung und umgekehrt.

20 Jahre BaBeL

BaBeL steht für Quartier Basel- und Bernstrasse Luzern. Das Quartierentwicklungsprojekt startete mit dem Orientierungsabend «BaBeL – ein Quartier mitverändern» am 10. Juni 2002. Es gab Handlungsbedarf: Littering, Drogen und Lärm grassierten im Quartier, Freiraum war wenig vorhanden und die Integration der Menschen aus 80 Herkunftsländern war und ist herausfordernd.

BaBeL-Kids und «Shop and Food»-Touren

Die Stadt Luzern und vier Hochschuldepartemente wirkten mit Quartierkräften zusammen. Als erstes Produkt entstand 2003 «BaBeL-Kids»: Das Betreuungs- und Förderprogramm für Quartierkinder wurde danach auch in Zürich und Solothurn implementiert. 2005 folgten «Shop and Food»-Touren durch Läden verschiedenster Kulturen mit abschliessendem Essen. «Seed of Change» ist eine neuere Begegnungsplattform beim Dammgärtli.


Lebensraum BaBeL

An der Oberen Bernstrasse entstehen gemeinnützige Wohnungen. Geplant ist, das Areal um die St.-Karli-Brückenköpfe zu entwickeln – auch soll ein grosszügiger Park auf der Reussinsel entstehen. An der Bernstrasse gilt Tempo 30, dieses Jahr folgt die Baselstrasse. Das Quartier bleibt einmalig: Bahngleise, Langsamverkehr- und Kantonsstrassen, dazwischen Häuserreihen mit Menschen aus aller Welt.
Und wenn dann noch der Motor eines Ferraris aufheult – gerade auf «Grand Tour» zum Château Gütsch –, dann ist die «Rue de Blamage» (SRF-Film) vielmehr eine «Rue du Monde» (Willener).

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Stadtmagazin 3/2022