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23. August 2021
In der Kinder- und Jugendsiedlung Utenberg (KJU) wohnen rund 50 Jugendliche, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in ihrer eigenen Familie leben. Zwei der jungen Menschen erzählen von ihrem Alltag.

Eine Amsel trillert, die Gewitterwolken sind vorbeigezogen, aus den geöffneten Fenstern tönt Lachen und das Klappern von Geschirr. Bald ist es Zeit für das Abendessen. «Hotel Mama gibt’s hier nicht! Wir helfen bei der Hausarbeit, und abends kochen wir selbst auf der Gruppe», sagt Michaela (19), die zusammen mit Haidar (17) auf den Treppenstufen des grosszügigen Innenhofs der Kinder-und Jugendsiedlung Utenberg (KJU) sitzt, und schon wird über die Zubereitung von Reis gefachsimpelt: Michaela kocht gerne Thai, Haidar liebt Birami-Reis mit Gemüse, wie es in seiner Heimat Afghanistan gemacht wird. «Der Koch hat sich extra erkundigt, wie man das macht, und ich durfte dann beim Zubereiten des Mittagessens helfen. Das hat mich so gefreut!», erzählt der 17-Jährige, der hier zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder eine Gemeinschaft erlebt: Mit zwölf Jahren ist er alleine aus Afghanistan geflüchtet, nach einer fast vierjährigen Odyssee in der Schweiz gelandet, und seit etwas mehr als einem Jahr lebt er zusammen mit acht anderen Jugendlichen auf einer der Wohngruppen in der KJU.

«Es ist schön, nicht alleine zu sein. Es ist hier fast wie eine Familie», sagt Haidar. Michaela nickt und ergänzt: «Mit einigen auf meiner Gruppe lebe ich seit vielen Jahren zusammen, das ist schon ähnlich wie bei Geschwistern: Man kennt sich in- und auswendig.» Die junge Powerfrau lebt seit beinahe elf Jahren hier, hat soeben erfolgreich die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit beendet und zieht in eine eigene Wohnung. Dann steht sie beruflich und privat auf eigenen Beinen. «Zum ersten Mal im Leben werde ich alleine leben und für mich selbst bestimmen. Darauf freue ich mich riesig!»

Beziehungen auf Augenhöhe

Michaela ist mit sechs Geschwistern unter schwierigen Umständen bei ihrer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Als sie sechs Jahre alt war, wurden sie und ihre Geschwister fremdplatziert. «Wir wurden auseinandergerissen, alle sind in eine andere Pflegefamilie gekommen – heute wäre das bestimmt nicht mehr so», erzählt Michaela, die später mit einem Bruder in die Jugendsiedlung gekommen ist. Es habe sich vom ersten Moment an gut angefühlt: «Alle, die hier sind, haben eine schwierige Geschichte – das verbindet. Und es tut gut zu merken, dass man damit nicht alleine ist.» Unterdessen ist die junge Frau mit ihrem positiven Denken auch Ansprechperson für die Jüngeren, die mit ihren Sorgen oder Freuden zu ihr kommen. «Ich habe einen aufgestellten Charakter, das macht vieles einfacher», sagt sie und lacht.

Eine gute Beziehung habe sie auch zu den Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen, die auf den Gruppen rund um die Uhr als Bezugspersonen präsent sind: «Ich bin jetzt erwachsen, wir begegnen uns auf Augenhöhe. Manche werden mir fehlen, wenn ich nicht mehr hier lebe – mit ihnen werde ich bestimmt in Kontakt bleiben!» Ein Elternersatz sei das allerdings überhaupt nicht. Zwar kenne man sich sehr gut, könne mit allen Problemen und Anliegen auf die Bezugspersonen zugehen und werde ernst genommen. «Aber es ist eher eine freundschaftliche Verbindung.»

Die Mitleidsschiene nervt

Dass die Jugendlichen im KJU mit empathischer Betreuung durch den Alltag begleitet werden, schätzt auch Haidar. «Hier ist kein Chaos, das ist gut. Es gibt Regeln und Strukturen, die ich kenne und die mir Halt geben. Wenn ich Fragen habe, hilft mir jemand, um eine Lösung zu finden», sagt Haidar, der jahrelang auf sich selbst gestellt war und letztmals vor drei Jahren Kontakt zu seiner Mutter und dem Onkel in Afghanistan hatte. «Vielleicht finde ich sie wieder, vielleicht kann ich in ein paar Jahren zurück und dann leben wir zusammen. Das ist mein Traum.» In der KJU bekommt Haidar, der bereits fliessend Deutsch spricht, auch Unterstützung bezüglich seiner beruflichen Zukunft: Durch die interne Fachstelle Berufliche Integration hat er konkretere Vorstellungen erhalten, was er lernen möchte. «Im Sommer kann ich eine Schnupperlehre als Bodenleger machen, und wenn es klappt, darf ich dort nachher die Lehre beginnen.»

Zwei junge Erwachsene sitzen auf einer Bank

Die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen der KJU besuchen grösstenteils die Regelschule und steigen nachher in die Berufsausbildung ein. So war das auch bei Michaela. «Die anderen Kinder in der Schule fragten natürlich schon, warum ich im Utenberg und nicht daheim lebe. Ist ja logisch, dass sie neugierig waren», erinnert sie sich an ihre Schulzeit. Mühsamer sei es gewesen, dass manche Lehrpersonen sie bemitleidet hätten. «Diese Mitleidsschiene nervte. Ich wollte einfach sein wie die anderen: ein ganz normales Kind.» Dass Michaela den grössten Teil ihrer Kindheit in der KJU verbracht hat, sieht sie positiv. «Ich konnte hier viel profitieren und wurde in meiner Entwicklung unterstützt – und jetzt stehe ich als selbstständige und selbstbewusste Frau und mit meinem Diplom in der Tasche da!» Als frischgebackene Fachfrau Gesundheit will sie weiterhin bei der Spitex arbeiten, und irgendwann soll es dann auf Reisen gehen. «Doch das hat Zeit, jetzt freue ich mich erst mal auf die eigene Wohnung und die Arbeit mit den alten Leuten.»

Guter Rat für andere Jugendliche

Auf den verschiedenen Gruppen leben rund 50 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, alle haben ein eigenes Zimmer. «Ein wichtiger Rückzugsort!», sagen sowohl Haidar wie Michaela und lachen, weil aus einem Zimmer soeben lauter Hip-Hop-Sound dröhnt. Nicht alle kennen sich, dazu sind Tagesabläufe und Alter zu unterschiedlich. Auch Haidar und Michaela plaudern heute im Innenhof zum ersten Mal miteinander. Und sie entdecken ein gemeinsames Hobby: Volleyball. «Wir treffen uns oft am Abend zum Spielen. Komm doch auch mal», schlägt Michaela vor und Haidar schlägt ein.

Viel Zeit für Hobbys haben beide nicht, das Schul-und Ausbildungsprogramm ist dicht. «Manchmal gehe ich ins Fitness. Und ich führe sehr, sehr gerne tiefgründige Gespräche», erklärt Michaela. Irgend­wann möchte sie ein Buch schreiben über ihre Geschichte, eine Art «Guide» für andere Kinder und Jugendliche in schwierigen Situationen. Die wich­tigste Botschaft hat sie jetzt schon parat – und das ist zugleich auch ein Kompliment an die Kinder-und Jugendsiedlung Utenberg: «Alles kommt gut, wenn die richtigen Leute bei dir sind!»

Christine Weber, freischaffende Journalistin

50 Jahre Utenberg

Die Kinder- und Jugendsiedung Utenberg (KJU) besteht aus mehreren Häusern, sie ist architektonisch auf die Bedürfnisse ausgerichtet und schmiegt sich an den Hügel Utenberg. Ein guter Ort für die 50 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die hier leben, und für jene rund 20 jungen Menschen, die tagsüber oder temporär betreut werden. Der Neubau der Jugendsiedlung wurde 1971 bezogen.

Die Ursprünge reichen allerdings über 200 Jahre zurück: Ab 1811 gab es das «Waisenhaus» der Stadt Luzern an der Baselstrasse, das ab 1855 von den Ingenbohler Schwestern geführt wurde und 1962 an weltliches Personal übergeben wurde. 1966 begann die Planung für die neue Siedlung Utenberg.

Fortschrittliches Erziehungssystem

Zur gleichen Zeit wandelte sich die traditionelle Anstaltserziehung hin zu einem fortschrittlichen Erziehungssystem. Dazu gehörte unter anderem mehr Raum und mehr fachliches Personal – beim Neubau wurde das umgesetzt. Entstanden ist eine moderne und professionell geführte Siedlung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 7 und 22 Jahren.

Video gibt Einblick

Das 50-Jahre-Jubiläum wird aufgrund der Corona-Situation auf besondere Art gefeiert: Unter Mitwirkung von Jugendlichen der KJU ist ein tolles Video entstanden, das einen wunderbaren Einblick in die Welt der Kinder-und Jugendsiedlung Utenberg gibt: www.utenberg.ch

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Stadtmagazin Nr. 3/2021