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25. August 2025
Aus «Sittenwächtern» sind Bezugspersonen geworden: für Suchtbetroffene, Obdachlose, Jugendliche – für alle, die sich im öffentlichen Raum aufhalten. Die SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention) patrouilliert seit 20 Jahren. Ihre Arbeit ist unverzichtbar.

Von Robert Bossart

«Wer nicht gerne den ganzen Tag zu Fuss unterwegs ist, hat bei uns nichts verloren», sagt Ladina Kathriner und schmunzelt. Zwischen 20’000 bis 30’000 Schritte macht die SIP-Mitarbeitende pro Tag, wenn sie auf Patrouille ist. Vor 20 Jahren wurde die SIP gegründet mit der Idee, eine Brücke zwischen Polizei und Sozialarbeit zu schlagen. Die 13 Mitarbeitenden werden heute von den Betroffenen und auch von der übrigen Bevölkerung geschätzt, ihre Arbeit und Präsenz im öffentlichen Raum ist fester Bestandteil des städtischen Lebens und wird entsprechend anerkannt. Dies war nicht immer so. Am Anfang musste das Team auch ordnungsdienstliche Aufgaben wahrnehmen. Dafür waren sie mit stichsicherer Weste, Trillerpfeife und Pfefferspray ausgerüstet. Und auch die Kleidung mit schwarzer Weste, bordeauxrotem Oberteil und Baseballmütze wirkte «polizeiähnlich».

Der damalige Auftrag, eine Mischung aus autoritärem Ordnungsdienst und einfühlsamer Dialogbereitschaft, erwies sich als diffus und problematisch. SIP-Leiter Arjen Faber erinnert sich und gibt ein Beispiel aus seiner Anfangszeit vor fünf Jahren. «Wir wiesen drei Jugendliche, die auf der Lehne einer Parkbank sassen, darauf hin, dass sie ihre Schuhe von der Sitzbank nehmen sollen. Kaum waren wir ein paar Meter weit weg, stellten sie ihre Füsse wieder auf die Bank. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel, wir wurden nicht ernst genommen. Man pfiff uns nach, und viele empfanden uns als eine Art Sittenwächter.»

«Menschen stärken»

Im Laufe der Jahre hat sich SIP verändert. Trillerpfeife, Pfefferspray und stichsichere Westen verschwanden, die heutigen blauen Softshell- und Regenjacken wirken weniger dominant. Nicht die Defizite, sondern die Ressourcen der Menschen auf der Strasse stehen im Zentrum, bringt es Arjen Faber auf den Punkt, und Ladina Kathriner ergänzt: «Wir arbeiten in dem Raum, wo es noch keine Polizei braucht, und versuchen, die Menschen so zu stärken, dass sie selbst ihren Teil zu einer friedlichen Koexistenz beitragen können.»

Was tut die SIP eigentlich tagein, tagaus? «Als Erstes lesen wir, was unsere Kollegen tags zuvor bei ihren Rundgängen beobachtet haben», sagt Ladina Kathriner. Und dann geht die Zweierpatrouille los: Vögeligärtli, Kante B beim Bahnhof, Ufschötti, Geissensteinring, Bruchstrasse, Kasernenplatz, Baselstrasse und sämtliche Kinderspielplätze. «Im Winter schauen wir zuerst dort vorbei, wo die Obdachlosen sind, und bringen heissen Tee», sagt Salah Galal, der dienstälteste SIP-Mitarbeitende in der Runde. Im Sommer sind je nach Wetter auch mal Hitzepatrouillen nötig. «Menschen unter Drogen merken manchmal nicht, dass sie zu wenig trinken und dehydriert sind.»

Wer beansprucht wie viel Raum?

Die SIP-Patrouille sucht den Kontakt zu den Menschen, die sich im öffentlichen Raum aufhalten. Wer ist das? Eigentlich alle, meint Ladina Kathriner. «Die Hauptgruppen sind Suchtbetroffene, im Winter auch Obdachlose, im Sommer Jugendliche und Menschen mit Migrationshintergrund. Und eigentlich geht es im Grunde um Nutzungskonflikte, also darum, wer den öffentlichen Raum wie beanspruchen darf.» SIP ist auch der Kontakt zur Anwohnerschaft und zum Gewerbe wichtig. Alle sollen sich möglichst sicher fühlen.

Von morgens bis abends, am Wochenende und je nachdem auch unter der Woche bis zwei Uhr nachts, sind stets SIP-Mitarbeitende in der Stadt unterwegs, fast immer zu Fuss. «Wir werden von den Menschen auch wahrgenommen», sagt Ladina Kathriner. Während ihren Rundgängen gehen sie auf die Suchtbetroffenen oder Jugendlichen zu und fragen, wie es ihnen geht. «Manchmal ergibt sich ein längeres Gespräch, manchmal ist es nur ein Hallo.» Die einen schimpfen und fluchen, andere sprechen über ihre Sorgen und Nöte.

Tägliche Beziehungspflege

Die Arbeit der SIP sei eine permanente Beziehungsarbeit, betonen die drei. Darauf seien ihre Kolleginnen und Kollegen aus Zürich neidisch, sagt Arjen Faber. «In Zürich ist die SIP nur bei 3 bis 5 Prozent der Randständigen bekannt, bei uns sind es 60 bis 70 Prozent.» Mit anderen Worten: «Man kennt uns. Das ist entscheidend», sagt Salah Galal. Er selbst spricht Arabisch und hat darum einen guten Zugang zu vielen Asylsuchenden. Deshalb bräuchten sie keine «Muskeln», um in heiklen Situationen zu schlichten. «Wenn es beispielsweise am Bahnhof zu Streit kommt, können wir die Situation meist rasch beruhigen», sagt Arjen Faber. «Die Leute auf der Gasse hören auf uns.» Ladina Kathriner nickt. «Die täglichen Gespräche und die Beziehungen, die wir pflegen, sind das A und O unserer Arbeit.»

Vier Rollen hat die SIP: Botschafterin, Vermittlerin, Helferin und Beobachterin soll sie sein. Vermitteln und helfen spielen auf den Rundgängen eine wichtige Rolle. «Wir sind wie ein Schalter im öffentlichen Raum», sagt Salah Galal. «Wir weisen auf die verschiedenen Hilfsangebote wie etwa das Drop-in (siehe Weitere Informationen) hin oder begleiten auch mal jemanden aus der Gassenküche ins Spital.» Die SIP bespricht sich regelmässig mit Institutionen aus dem Suchtbereich, der Polizei und dem Strasseninspektorat. «Da wir permanent unterwegs sind, beobachten und sehen wir, was in der Stadt läuft», sagt Ladina Kathriner. So können sie auch mal darauf hinweisen, wenn Toilettenanlagen nicht sauber sind oder wenn irgendwo die Beleuchtung mangelhaft ist. «Wir sind so etwas wie eine Art Frühwarnsystem», sagt sie.

Auf ihrer Tour vom Vögeligärtli über die Kante B beim Bahnhof, die Ufschötti, den Geissensteinring, die Bruchstrasse, den Kasernenplatz und die Baselstrasse treffen die SIP-Mitarbeitenden Altbekannte. Von rechts: Salah Galal und Ladina Kathriner im Gespräch mit Zombie.

Neue Dynamik durch Crack

Die Suchtbetroffenen bewegen sich mehr oder weniger regelmässig im öffentlichen Raum in Luzern. Wie hat sich diese Szene in den letzten 20 Jahren verändert? «Heroin ist verschwunden, dafür dominiert Crack», sagt Salah Galal. Die Süchtigen waren früher während drei bis vier Stunden high, mit Crack sind es nur noch wenige Minuten, bis die nächste Dosis fällig wird. «Die Betroffenen sind im Dauerstress, haben keine Kumpels mehr und sind permanent unruhig. Wir müssen uns stets der aktuellen Dynamik anpassen und wissen nicht, wie es morgen aussehen wird.»

Mehr Toleranz

Bei den Jugendlichen stellen die SIP-Mitarbeitenden einen grossen Redebedarf fest. «Viele sind gestresst wegen des zunehmenden Drucks in der Berufswelt, haben Angst vor der Zukunft, hinzu kommt der Zwang zur Selbstinszenierung in den sozialen Netzwerken», sagt Ladina Kathriner. Trotz diesen Herausforderungen liebt sie ihren Job. «Ich kann ständig unterwegs sein und finde es sehr spannend, in all die Lebenswelten der Menschen einzutauchen.» Zu schaffen mache ihr, wenn sie nichts tun könne, etwa wenn ein Suchtbetroffener jegliche Hilfsangebote verweigere. Schwierig ist für die SIP-Mitarbeitenden auch die fehlende Toleranz gegenüber Jugendlichen oder Suchtbetroffenen. «Dabei gehören diese Menschen zu uns, sie sind ein Teil unserer Gesellschaft», sagt Arjen Faber.

 

Weitere Informationen

Schwieriger Anfang
Sicherheit, Integration, Prävention» (SIP) wurde 2005 gegründet, Vorbild war die gleichnamige Organisation der Stadt Zürich. Ziel war es, die Sicherheit und die Sauberkeit im öffentlichen Raum zu verbessern. Dabei ging es in der Pilotphase in erster Linie um die Beruhigung der Drogenszene im Vögeligärtli. Das Projekt war politisch umstritten, die SVP verlangte per Vorstoss die Abschaffung von SIP – erfolglos: 2008 wurde sie definitiv eingeführt.

Vernetzerin
Es zeigte sich, dass die SIP-Teams mit ihrer präventiven Arbeit auch Personen erreichten, die für die Polizei kaum zugänglich waren. Die Kontakt- und Beziehungspflege wurde gegenüber den Ordnungsdienstlichen Aufgaben immer wichtiger. 2021 wurde die Rolle der SIP neu definiert: als Botschafterin, Vermittlerin, Helferin und Beobachterin. SIP vernetzt Personen, die in Schwierigkeiten sind, mit Hilfsangeboten wie beispielsweise Akzent, einem Angebot im Präventionsbereich und der Suchttherapie, dem Drop-in, einer ambulanten Behandlungs- und Abklärungsstelle für opioid- oder mehrfachabhängige Menschen, sozialen Diensten, Schulen, der kirchlichen Gassenarbeit, der Polizei.

Info-Rundgänge
Die SIP führt nebst den Patrouillen seit 2021 auch Rundgänge für junge Menschen, für Lernende, Geflüchtete oder Sans-Papiers durch. Themen dieser Rundgänge sind Obdachlosigkeit, Suchtmittel, Littering oder Ruhestörung. Ebenso dienen diese Veranstaltungen dem Aufbau einer Vertrauensbeziehung.

 

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Stadtmagazin 3/2025